Die Nobelpreise stehen bevor, die Allgemeine Relativitätstheorie wird 100 Jahre alt und Markus Bohn, langjähriger Leiter der SWR-Wissenschaftsredaktion, verabschiedet sich in den Ruhestand. Anlässe genug, um zu seinem Abschied mit ihm diese zugegebenermaßen steile These im SWR2 Forum zu diskutieren.

Blicken wir mal hundert Jahre zurück: Die Wissenschaft erlebte damals einen Aha-Effekt nach dem anderen: Relativitäts- und Quantentheorie revolutionierten die Physik.

Sigmund Freud legte – auch wenn er natürlich längst nicht mehr das Maß der Dinge ist – die Grundlagen für die Erkundung unserer seelischen Ab- und Tiefgründe. William Bateson prägte den Begriff „Genetik“, Roald Amundsen erreichte den  Südpol und Alfred Wegener zeigte, dass die Kontinentalplatten ein großes Puzzle bilden. All das und noch viel mehr in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts.

Neandertaler

Fotobeweis: Es kam zu Begegnungen zwischen Homo sapiens und seinen Verwandten.

Gemessen daran wirken die Erkenntnisse der ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts geradezu langweilig: Ist das Universum nun 13,8 oder 13,9 Milliarden Jahre alt – was macht das noch für einen Unterschied? Hier noch ein neues Elementarteilchen entdeckt, dort ein neuer Verwandter des Menschen – na und? Dass unser Stammbaum verästelt ist und die letzten Verwandten erst in der letzten Eiszeit ausgestorben sind, hat sich ja schon herumgesprochen. Und die lange gehypete Hirnforschung hat in letzter Zeit auch nicht wirklich weiter geholfen, uns selbst besser zu verstehen.

Natürlich wird viel geforscht und so viel publiziert wie nie. Und natürlich gibt es auch neue Ergebnisse und Erkenntnisse. Der technische Fortschritt vollzieht sich in atemberaubendem Tempo – doch was tragen die Naturwissenschaften noch Neues zum Verständnis der Welt bei? Folgt auf das aufregende 20. Jahrhundert, das Galaxien, Schwarze Löcher, die DNA-Doppelhelix und die Schritte der Menschwerdung sichtbar werden ließ, nun ein Jahrhundert der Fußnoten?

„Sie werden schon sehen, was Sie von Ihrer These haben“, schrieb mir Ernst Peter Fischer vor der Sendung. Und natürlich klingt sie wie feuilletonistisch daher fabuliertes Gewäsch. Schließlich erkennt man wissenschaftliche Revolutionen erst mit Verzögerung. Einstein war 1915 schließlich auch noch nicht die Ikone, zu der er später wurde. Erst in 10-20 Jahren werden wir wirklich sehen, was die Revolutionen von heute sind. Manche sind aber sogar schon erkennbar: Gerade die Biologie musste dank Genom- und Stammzellforschung in den zurückliegenden 15 Jahren bereits einige ihrer Dogmen korrigieren bis hin zur Epigenetik. Auch die Kosmologie wartet mit Überraschungen auf wie der beschleunigten Expansion des Universums – und der möglichen Existenz von Paralleluniversen diverser Art.

Doch solche Erkenntnisse irritieren weniger, erschüttern uns weniger in unseren Grundfesten – oder in den Worten von Freud: sie „kränken“ uns nicht mehr. Was aber nicht unbedingt an der Wissenschaft liegt, sondern – wie Annette Leßmöllmann es in der Sendung skizziert – daran, dass der Nährboden für Irritationen heute weniger fruchtbar ist.  Wir sind inzwischen von der Wissenschaft ohnehin schon so einiges gewohnt. Auch die Kirchen haben gelernt, Religion und Wissenschaft auseinanderzuhalten und Forschungsergebnisse nicht mehr auf ihre Kompatibilität mit der göttlichen Lehre abzuklopfen. In den USA mag das etwas anders aussehen, allerdings gilt auch hier: das konservativ-religiöse Milieu reibt sich hauptsächlich an Erkenntnissen der letzten Jahrhunderte (Evolution, Klimawandel) – nicht an denen von heute. Richtig ist aber auch der mehrmals anklingende Vorwurf, dass die Medien selbst in den Fällen, wo es Staunenswertes zu berichten gibt, die Chance oft nicht ergreifen und sich zu selten die Mühe machen, z. B. die realphilosophische Dimension neuer Erkenntnisse populär aufzubereiten. Ich nehme das mal als Auftrag mit.

Die “Symphonies of Science” ästhetisieren die großen Erkenntnisse der Wissenschaft – aber eben die des 20. Jahrhunderts.

Trotzdem, ein paar Dinge haben sich auch in der Wissenschaft selbst verändert, wie vor allem in der zweiten Hälfte der Sendung deutlich wurde:

Die Art der heutigen Forschungsfinanzierung begünstigt zwangsläufig sehr viel stärker anwendungsorientierte Problem-Lösungs-Forschung gegenüber der reinen Neugier-Forschung.

Viele Erkenntnisfortschritte im 20. Jahrhundert sind den Riesenentwicklungen in der Messmethodik zu verdanken. Die Wissenschaft kann heute Atome ebenso sichtbar machen wie die winzigen Fluktuationen in der kosmischen Hintergrundstrahlung. Sie kann das Alter von Fossilien und archäologischen Funden sehr genau bestimmen und anhand von Radioisotopen den Migrationshintergrund vom Ötzi nachzeichnen. Selbst wenn die Messungen in all diesen Disziplinen noch genauer werden mögen, scheint doch fraglich, ob sie im gleichen Maß zu neuen fundamentalen Erkenntnissen beitragen wie die Mess-Fortschritte im 20. Jahrhundert. Dagegen scheinen die technischen Werkzeuge – ob in der Nanotechnik, in der Stammzellmedizin oder in der Gentherapie noch längst nicht ausgereizt.

Infolge all dessen irritiert die Wissenschaft heute weniger durch fundamentale „Welt-Erkenntnisse“, als vielmehr durch den technischen Fortschritt: Klonen, embryonale Stammzellen, Geoengineering, Big Data. Es handelt sich jetzt mehr um ethische, weniger um epistemologische Irritationen.

Man kann das noch an einem anderen Umstand deutlich machen: Das 20. Jahrhundert war geprägt von großen epistemologischen Entwürfen: Informationstheorie, Kybernetik, Systemtheorie, Positivismus, Konstruktivismus und all die anderen –ismen. Im 20. Jahrhundert habe ich wenige Kongresse erlebt, in denen nicht irgendwann das Wort „Paradigmenwechsel“ fiel. Das ist seltener geworden. Täuscht der Eindruck, oder kommt im 21. Jahrhundert hier wirklich wenig nach?

Das muss ja auch alles nicht endgültig sein – auch Ernst Peter Fischer räumte schließlich die Möglichkeit ein, dass wir uns in einer gewissen „Schlummerphase“ befinden, in der die Wissenschaft gerade mal nicht so viele Überraschungen produziert, in der es aber dennoch unter der Oberfläche arbeitet und brodelt und die Revolutionen von morgen vorbereitet werden. Wollen wir es hoffen!

Nachtrag 2.10.: Lars Fischer hat zu diesem Text einen Kommentar geschrieben, der nahtlos an die letzten drei Absätze anknüpft.