(Originalveröffentlichung: epd medien 17.4.2010 – www.epd-medien.de)
Gábor Paál
Verglichen mit dem Fernsehen ist Radio vergleichsweise billig. Verglichen mit geschriebenem Text vergleichsweise flüchtig. In der Wahrnehmung der Medienpolitik gilt es als Nebenbei-Medium. Zu Unrecht.
„Radio lohnt sich nicht“,
erklärt Michael Ballack der Hörfunkreporterin, die ihn am Rande eine Galaveranstaltung vergeblich um ein kurzes Interview bittet. Radio, was ist das schon? Oder besser: Was ist es noch? Prominente, die sich dem Radio verweigern, geht nicht um Zeitmangel, sondern um Status. Wer sich mit Radiojournalisten einlässt, erweckt den Anschein, als habe er das noch nötig. Zwar gibt mancher Bundesminister gelegentlich in den Frühsendungen der Informationsprogramme noch ein Interview – aber auch nur in der Erwartung, dass die Redaktion aus seinen Äußerungen eine Meldung formuliert, die dann wiederum Niederschlag in Zeitung und Fernsehen findet. Das Radio dient auch hier nur als Medium zum Zweck.
Die Gründe für die Entwicklung sind vielfältig.
Kleinteiligere Verbreitung
Zum einen lässt sich nicht bestreiten, dass überregionale Fernsehprogramme mehr Zuschauer erreichen als einer von vielen Dutzend regionalen Radiosendern. Das liegt aber weniger an Eigenschaften des Mediums als solchem als daran, dass die Hörfunk-Landschaft stärker zergliedert ist. Während es im Fernsehen ein massenorientiertes „Erstes“ und ein „ZDF“ gibt, beschränken sich die bundesweiten Hörfunksender auf die – auf spezielle Zielgruppen zugeschnittenen – Programme des Deutschlandradios. Alle massenorientierten Hörfunkprogramme dagegen haben eine regional eingeschränkte Verbreitung.
Zum anderen aber üben sich die Radiomacher selbst in einer bemerkenswerten Selbstbeschneidung und scheinen ihren eigenen gesendeten Worten nicht zu trauen:
Wie selbstverständlich stellen Informationsprogramme im Radio täglich die Kommentare von Heilbronner Stimme bis Weser-Kurier zu einer „Presseschau“ zusammen; umgekehrt sind freilich in keiner Zeitung Radiokommentare nachzulesen. Kein Wunder: Sie werden ja auch nicht über die Agenturen verbreitet. Entsprechend finden Radiokommentare auch bei politischen Entscheidungsträgern weniger Beachtung als die Kommentare der Zeitungen, die in den „Pressespiegeln“ der Ministerien ausgewertet werden. Dass sich Radiokommentare qualitativ keineswegs „minderwertig“ sind, zeigt ein Blick auf tagesschau.de, wo sich deutlich mehr Hörfunk- als Fernsehkommentare finden.
Wie selbstverständlich interviewen wir Radiomoderatoren unsere Zeitungskollegen, weisen ihnen somit die Rolle von Experten zu, als seien sie die „besseren“ Journalisten; Kaum jedoch wird man Zeitungen finden, die Radiojournalisten zu einem aktuellen Thema befragen. Und vergleichsweise selten werden Radiojournalisten in den „Presseclub“ oder vergleichbare Sendungen eingeladen.
Der Hörfunk ist auch für die Intendanten der Rundfunksender von nachrangiger Bedeutung.
Im Fernsehen sind einzelne Personalfragen – wer beerbt Christiansen? Wo darf Plasberg senden? Was wird aus Pocher? – Stoff für die Spitzentreffen der Intendanten. Im Radio kräht danach bestenfalls die zuständige Abteilungsleitung. Zugegebenermaßen macht all dies das Arbeiten beim Radio auch angenehm. Was wir senden, schafft es selten zum Politikum. Wir kennen zwar die „Quote“ unserer Programme, aber anders als beim Fernsehen lässt sie sich nicht am Folgetag minutengenau für jede einzelne Sendung ablesen. Dadurch sind wir freier und flexibler als die Fernsehkollegen. Doch müssten wir diese Vorzüge überhaupt aufgeben, um wirkungsstärkerer sein?
Natürlich gibt es objektive Gründe für die abnehmende Bedeutung des Radios. Es hat einige seiner Alleinstellungsmerkmale eingebüßt: Es ist nicht mehr das schnellste Medium – das Internet ist heute schneller. Es ist nicht mehr das, was es früher war und in wenigen Weltregionen noch ist: das zentrale Medium der sozialen Integration, das öffentliche Diskurse kanalisiert, den Schwachen eine Stimme gibt und die entlegende Landbevölkerung über aktuelle Entwicklungen informiert. Auch diese Funktionen haben sich weitgehend auf Fernsehen und Internet verteilt.
Vordergründig scheint auch die jüngste Studie der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien den schwindenden Einfluss des Radios zu bestätigen.
Die vorgestellten Zahlen müssten Radiomacher beunruhigen: Das Fernsehen trägt demnach zu 39 % zur Meinungsbildung bei, gefolgt von der Tageszeitung (26%), während Hörfunk (17 %) und Internet (13 %) scheinbar eine vernachlässigbare Rolle spielen. Das jedenfalls sind die Zahlen, die als Zusammenfassung in die Öffentlichkeit getragen werden. Sieht man sich die Studie genauer an, ergibt sich dagegen ein wesentlich differenziertes Bild. Es wird deutlich, dass diese Zahlen auf methodisch äußerst fragwürdige Weise zustande gekommen sind. (Eine ausführliche Kritik der Studie hier). Tatsächlich kommt das Radio (das öffentlich-rechtliche zumal) in den Daten der BLM-Studie gar nicht so schlecht weg. Denn sie berücksichtigt nicht die spezifische Wirkungsweise des Radios.
Das Radio ist – und damit sind wir zurück bei den Alleinstellungsmerkmalen – nach wie vor das einzige Medium, das „nebenbei“ konsumiert werden kann, über das man mit Themen konfrontiert wird, mit denen zu befassen man sich bei einer Zeitungslektüre nie die Zeit nehmen würde. Die meisten Menschen schalten das Radio nicht zur gezielten Information ein – und dennoch werden sie informiert. Und sie bekommen Anstöße, sich mit Themen zu beschäftigen, die sie dann in den anderen Medien weiter verfolgen. Denn dass „nebenbei“ gehört wird, sagt dabei jedoch noch nichts über die Aufmerksamkeit aus. Man kann im Auto, beim Bügeln oder Kochen sehr aufmerksam Information über das Radio aufnehmen.
Das Radio kann abstrakte Gedanken und Zusammenhänge transportieren, die das Fernsehen in seiner Abhängigkeit von Bildern nicht mehr vermittelt (was sich in der Qualität der Kommentare ja auch zeigt). In den gehobenen Radioprogrammen wird dies auch genutzt. Dies ist der nächste Fehler der BLM-Studie (und vieler anderer): Reichweite ist nicht mit Wirkung gleichzusetzen. So hat zwar SWR3 zehnmal mehr Hörer als SWR2 – vergleicht man jedoch die Resonanz auf einzelne Berichte (Rückmeldungen von Hörern, aber auch die Zahl der Podcast-Abrufe der informierenden Berichte) kehren sich die Verhältnisse um.
Ekkehardt Oehmichen, Leiter der Medienforschung beim Hessische Rundfunk, hat schon vor mehr als zehn Jahren eine Methodik entwickelt, um neben der Zahl der Hörer auch die Zuhör-Intensität zu erfassen (Aufmerksamkeit und Zuwendung beim Radio hören, Media Perspektiven 3/2001). Hierbei wurden Hörer aus allen demographischen Gruppen, differenziert nach Medien-Nutzer-Typen befragt. Ziel war, heraus zu finden bei welchen Gelegenheiten (z.B. „beim Aufwachen“, „während der Fahrt zur Arbeit“, „abends allein zu Hause“) sie in welcher Intensität (vier Stufen von „gar nicht“ bis „sehr stark“) Radio hören. Die „übliche, rein quantitativ orientierte Forschungslogik der Erhebung und Messung der Radionutzung“ müsse überwunden werden, folgerte Oehmichen in seinem Artikel – doch diese Ansätze wurden nicht weiter verfolgt.
Indem das Radio mangels Bilder ganz auf Klänge setzt, ist es das „sinnlichste“ aller Massenmedien. Diese Qualitäten behält das Radio, gerade auch in einer Zeit, in der Menschen immer weniger Zeit haben oder zu haben glauben. Es behält diese Vorzüge auch, wenn seine Sendungen über das Internet verbreitet werden. Radiosendungen kann man herunterladen und per mp3-Player im Auto, beim Kochen oder Joggen anhören. Für Zeitungsartikel und Fernsehsendungen muss man sich extra Zeit nehmen. Würde man das Hören gepodcasteter Sendungen als „Radio hören“ gewertet (was bei der üblichen Quotenmessung nicht geschieht), stünde das Radio sogar noch besser dar.
Warum stellen wir all diese vielen Vorzüge des Radios nicht stärker heraus? Warum führen wir die gewachsene, falsche Bescheidenheit weiter? Warum setzen wir so viel auf Moderatoren- und zu wenig auf Autorenradio? Sollten die Radiosender heute, da Menschen für ihre Gebühren eine besondere Qualität erwarten, neben ihren Präsentatoren nicht mindestens ebenso die prägenden journalistischen Köpfe heraus stellen? Warum begnügen wir uns mit diesem Schattendasein?
Den meisten Radiokollegen erscheint ihr eigenes Medium offenbar so klein, dass sie das schöne Wort „Radio“ kaum über die Lippen bringen und sich sicherer fühlen, wenn sie vom „Hörfunk“ sprechen. Vermutlich, weil das wenigstens noch ein paar Erinnerungen an „bekannt aus Funk und Fernsehen“ weckt – eine Redewendung aus einer Zeit, als der „Funk“ in solchen Zusammenhängen noch genannt wurde.
►Sendungstipp: Die Geschichte des Hörfunks in Originaltönen –
mp3-Datei der Sendung – für Unterrichtszwecke geeignet
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